15 Minuten behandeln, 30 Minuten verrechnen: So tricksen Physiotherapeuten, um mehr zu verdienen

Schwarze Schafe in der Physiotherapie bessern ihr Einkommen auf, indem sie den Krankenkassen die falsche Leistung in Rechnung stellen. Doch das grösste Problem ist die Tendenz, die Behandlungen zu verkürzen – bei gleichbleibender Abgeltung.

Simon Hehli
Drucken
Physiotherapieräume werden immer stärker beansprucht – mit entsprechend steigenden Kosten.

Physiotherapieräume werden immer stärker beansprucht – mit entsprechend steigenden Kosten.

Selina Haberland / NZZ

Die Patientin aus Winterthur stutzt. Auf der Rechnung, die ihr Physiotherapeut der Krankenkasse CSS gestellt hat, tauchen angebliche Behandlungen auf an Tagen, an denen sie gar nicht in der Schweiz war. Sie erstattet Anzeige, und bei den Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft kommen krumme Machenschaften ans Licht. Pro Patient darf ein Physiotherapeut generell nur eine Therapiesitzung von 30 Minuten am Tag abrechnen. Doch in diesem Fall hat sich der Therapeut jeweils zweimal 30 Minuten gleich hintereinander um die Patientin gekümmert. Um die Limitation zu umgehen, verteilte er die Sitzungen virtuell auf mehrere Tage – und hatte das Pech, dass seine Patientin die Rechnung genauer ansah, als dies die meisten tun.

Der Therapeut kam ohne Strafverfahren davon, musste der CSS und einer anderen Kasse jedoch 33 000 Franken zurückzahlen. Die CSS führt eine ganze Liste von Leistungserbringern, die getrickst haben, um ihr Einkommen aufzubessern. So wurde ein erst seit kurzem selbständiger Physiotherapeut im Aargau auffällig, weil er überproportional oft die Pauschale für eine aufwendige Therapie verrechnet hatte. Durch die Befragung von Kunden fand die Krankenkasse heraus, dass die Patienten bloss eine medizinische Trainingstherapie erhalten hatten, also ein überwachtes Arbeiten an Fitnessgeräten. Dabei kann ein Therapeut auch mehrere Klienten gleichzeitig betreuen, weshalb der Tarif tiefer ist. Der Therapeut musste der CSS 40 000 Franken rückerstatten.

Masseure statt Physiotherapeuten

In einem dritten Fall setzte eine Rehaklinik Masseure für Physiotherapien ein, verrechnete jedoch den Physiotherapeutentarif. In einem vierten Fall flog auf, dass der aus einem nordischen Land stammende Betreiber eines Physiotherapiebetriebs mehrere Therapeuten angestellt hatte, die über keine Anerkennung durch das Schweizerische Rote Kreuz verfügten. Diese ist jedoch für die Berufsausübung hierzulande nötig.

Für Dieter Siegrist, den Leiter Wirtschaftlichkeitsprüfung bei der CSS, ist klar, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Wenn eine Kasse auf missbräuchliche Abrechnungen stösst, dann oftmals durch Zufall, das gilt für alle Bereiche der Grundversicherung. «Wir bekommen pro Jahr insgesamt 16 bis 18 Millionen Rechnungen, da können wir unmöglich alle überprüfen», sagt Siegrist. Zumal ein Versicherer in der Regel nicht weiss, ob wirklich ein Arzt eine Therapie angeordnet hat oder ob der Patient die verrechnete Leistung wirklich bezogen hat.

Siegrist schätzt, dass die Schweizer Krankenkassen im Bereich Physiotherapie zusammen pro Jahr Dutzende von Millionen Franken für Rechnungen ausgeben, die schwarze Schafe zu Unrecht stellen. Er betont, dass sich der Grossteil der Physiotherapeuten korrekt verhalte. Es gibt allerdings einen Graubereich, der den Versicherern zunehmend Sorgen bereitet: die Länge der einzelnen Therapiesitzungen. Der Fixbeitrag für eine Sitzung ist laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) auf 32,6 Minuten ausgelegt, inklusive Verfassen des Therapieberichts. Die Krankenkassen erhalten nun vermehrt Hinweise von ihren Kunden, dass Physiotherapeuten die Sitzungen abkürzten, so dass manche Patienten nach 15 oder 20 Minuten bereits fertig seien. Für die Versicherten bedeutet dies, dass sie weniger Leistung für den gleichen Preis bekommen.

Doppelt so viele Konsultationen

Zahlen des Krankenkassenverbands Santésuisse zeigen: Die Anzahl der Konsultationen hat sich in der Physiotherapie in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Die Ausgaben liegen mittlerweile bei jährlich 1,123 Milliarden Franken. Pro versicherte Person sind sie von 2015 bis 2019 um satte 32 Prozent gestiegen. Das Wachstum war damit deutlich höher als jenes im gesamten Bereich der Grundversicherung, das rund 10 Prozent betrug.

Eine Erklärung für die steigenden Ausgaben ist, dass die Medizin bei manchen Verletzungen – etwa am Kreuzband – vermehrt auf Physiotherapie statt auf Operationen setzt. Doch das BAG hält auch die Verkürzung der Therapiesitzungen für einen Kostentreiber, wie es in einem Papier aus dem Jahr 2017 schreibt. Denn wenn Physiotherapeuten in einer Stunde drei statt zwei Patienten behandeln, steigern sie ihren Umsatz um 50 Prozent.

Illegal ist diese Praxis nicht: Die Länge einer Therapiesitzung ist nirgends verbindlich festgehalten. Die CSS ist deshalb zum Schluss gekommen, dass es derzeit aussichtslos ist, von Physiotherapeuten, die wegen einer extrem kurzen Behandlungsdauer auffallen, Geld zurückzufordern. Wenig glücklich mit der Situation ist auch das BAG. Das Bundesamt betont, es sei gerechtfertigt, von den Physiotherapeuten zu erwarten, dass sie für die Behandlungssitzung die vorgesehenen gut 30 Minuten aufwendeten, da dem Bundesrat «keine Studien und Daten vorgelegt worden sind, wonach kürzere Sitzungen sinnvoll sind».

Berset zum Handeln aufgefordert

Doch der Ball liegt noch bei den Tarifpartnern, also den Versicherern und den Interessenvertretern der Physiotherapeuten. Sie versuchen seit Jahren, einen neuen Tarif auszuhandeln, bisher ohne Erfolg. Der Krankenkassenverband Curafutura, zu dem die CSS gehört, schlägt vor, die Pauschale für eine gewöhnliche Physiotherapie mit einer zeitlichen Vorgabe von 30 Minuten zu verknüpfen. Der Konkurrenzverband Santésuisse hingegen setzt sich für einen Tarif ein, der die Leistung gemäss der tatsächlichen Behandlungsdauer abgelten soll. «Dann hätten die Tricksereien ein Ende», sagt der Santésuisse-Sprecher Matthias Müller. «Es würden nur noch Leistungen bezahlt, die tatsächlich erbracht werden. Davon profitieren Patienten und Prämienzahler gleichermassen.»

Die Schuld daran, dass es bisher zu keiner Einigung gekommen ist, schieben die Krankenkassenvertreter den Physiotherapeuten in die Schuhe: Diese hätten offensichtlich kein Interesse, am Status quo etwas zu ändern. Curafutura fordert deshalb Gesundheitsminister Alain Berset auf, den Tarif in Eigenregie zu korrigieren. Cassandra Buri, Sprecherin von Physioswiss, hingegen erklärt, ihr Verband sei offen für Gespräche mit den Krankenkassen. «Die geltende Tarifstruktur ist veraltet und widerspiegelt nicht die aktuellen Leistungen der Physiotherapie», findet auch Buri. Und sie betont: «Physioswiss hält die Physiotherapeuten an, den Tarif korrekt anzuwenden.»

Weitere Themen