Zum Inhalt springen

Logopäden in Deutschland »Wenn man Pech hat, ist man ein medizinischer Handlanger«

Caroline Dann arbeitete 23 Jahre als Sprachtherapeutin in London – wissenschaftlich fundiert, auf Augenhöhe mit den Ärzten. Dann kehrte sie nach Deutschland zurück und war irritiert vom hierarchischen Gesundheitssystem.
Aufgezeichnet von Matthias Kaufmann
Caroline Dann, 46, mit Schultüten ihrer kleinen Patienten. Als Logopädin behandelt sie vor allem Kinder.

Caroline Dann, 46, mit Schultüten ihrer kleinen Patienten. Als Logopädin behandelt sie vor allem Kinder.

Foto: Privat

Lebensläufe müssen nicht geradlinig sein, Biografien haben Brüche – das macht sie so spannend. In der Serie »Und jetzt?« erzählen Menschen von Wendepunkten in ihrem Leben, von Momenten, in denen sie Entscheidungen getroffen und etwas Neues gemacht haben. Diesmal: Caroline Dann, 46, kehrt nach Deutschland zurück – wo sie noch nie gearbeitet hat. Seither sehnt sie sich nach dem britischen Gesundheitssystem.

Und jetzt?

Alle bisherigen Folgen von »Und jetzt?« finden Sie auf unserer Serienseite. Sie standen selbst schon mal an einem Wendepunkt und möchten uns davon erzählen? Dann schreiben Sie uns an SPIEGEL-Start@spiegel.de .

»23 Jahre lang habe ich in Großbritannien gelebt. Als ich die Insel 2016 verließ, dachten viele, es sei wegen des Brexits. Die Entscheidung der Briten hat mich damals geärgert, aber der Auslöser war ein anderer: 2013 sind meine Zwillinge zur Welt gekommen, wenig später ging meine Beziehung in die Brüche. Ich war plötzlich alleinerziehend, und das bei den teuren Londoner Mieten, ohne Kita-Anspruch und fernab der Großeltern. Eine Weile habe ich noch durchgehalten und eine Nanny beschäftigt, doch da blieb vom Gehalt fast nichts übrig.

Also bin ich zunächst in mein Elternhaus in einem Dorf in der Nähe von Bitterfeld zurückgekehrt, das ich als 19-Jährige verlassen hatte. Meinen Kindern hat das gutgetan, das hat auch mir vieles erleichtert.

Andererseits war es der Neubeginn in einem Land, das ich wenig kannte. Schließlich bin ich direkt nach dem Abitur nach England gegangen, als Au-pair. Ich hatte noch nie in Deutschland gearbeitet.

Viele Ausdrücke waren mir nicht geläufig, zum Beispiel, dass alles Mögliche ›krass‹ sein kann, aber auch Anglizismen, die ich in England nie gehört hatte: etwa dass man von etwas ›geflasht‹ ist oder dass man einen Kaffee ›to go‹ bekommt. Typisch deutsche Redewendungen sind mir erst kaum eingefallen, dafür waren die englischen immer at the front of my mind.

Toll fand ich, dass meine Kinder nun auch in die Kita konnten, überhaupt ist der deutsche Sozialstaat so viel umfangreicher. Was mir dagegen zu schaffen machte, war die berufliche Veränderung. 16 Jahre lang habe ich in London als Sprachtherapeutin gearbeitet, das Fach zuvor auch dort studiert. Diese Arbeit ist in Großbritannien so viel besser strukturiert und organisiert – das vermisse ich sehr.

Ja, es stimmt schon, der staatliche Gesundheitsdienst der Briten (NHS), der die komplette medizinische Versorgung mit Hausärzten, Fachärzten, Therapeuten und Krankenhäusern organisiert, hat einen schlechten Ruf. Viele Bereiche sind eher schlecht ausgestattet und bürokratisch, sich darüber zu beschweren, gehört zur britischen Folklore. Andererseits ist der Anspruch sympathisch, allen Bürgern aus Steuermitteln eine umfassende Gesundheitsversorgung bereitzustellen.

Viel mehr Teamarbeit für die Patienten

So, wie ich es in meiner Arbeit im Londoner Stadtteil Ealing kennengelernt habe, ist die Herangehensweise sehr systematisch und effizient. Dort habe ich in einem Gesundheitszentrum praktiziert, wo man sich täglich eng mit Ärzten und anderen Therapeuten abspricht. Patienten werden über die Grenzen der Fachdisziplinen hinweg betreut. Die Anbindung an die medizinischen Fakultäten der University of London ist eng. Neue fachliche Erkenntnisse werden gleich in der Praxis umgesetzt, ihre Bewertung orientiert sich streng an Studienergebnissen. Damit holt man viel für die Patienten raus, und es ist fachlich interessant.

Gerade in den therapeutischen Bereichen gibt es so etwas in Deutschland kaum, so mein Eindruck. Nach meinem Umzug habe ich bald als Logopädin gearbeitet und musste feststellen: In Deutschland tauschen sich Ärzte und Logopäden selten auf Augenhöhe aus, vielmehr werde ich als Logopädin durch die ärztlichen Verschreibungen regiert. Dabei wird viel Potenzial verschwendet, denn die Logopäden sind ja auf einem Gebiet Experten, auf dem die verschreibenden Ärzte kein Spezialwissen haben.

Man kann immer mit einem Arzt Glück haben, der auf Kooperation setzt – aber die Strukturen unterstützen das nicht. Wenn man Pech hat, ist man hier ein medizinischer Handlanger unter Zeitdruck. Das Hierarchiegefälle, das beobachte ich auch bei Kollegen, setzt vielen Therapeuten zu.

In London, als Spezialistin für Hörbehinderungen, habe ich eng mit Eltern, Lehrerinnen, Erziehern, Therapeutinnen, Sozialarbeitern, Audiologinnen und Ärzten zusammengearbeitet. Unsere Akten waren elektronisch vernetzt, wir konnten sehen, wer unsere Patienten wann behandelt hat. Das funktioniert landesweit, sodass theoretisch kein Kind übersehen wird – besonders wichtig, wenn es Hinweise auf Kindesmissbrauch gibt.

Heilpädagogen nutzen alle Stellschrauben

Als Logopädin in Deutschland fehlt mir die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen sehr. Und es fehlt die Zeit für Reflexion, Hypothesenbildung, Evaluation und Planung der Therapien – da geht es in Großbritannien wissenschaftlich fundierter zu. Die Zeit, die man dafür braucht, wird von den deutschen Krankenkassen nicht ins Behandlungsbudget eingeplant.

Für viele unserer Patienten reicht es aber nicht, nur ein bisschen an ihrer fehlerhaften Aussprache zu arbeiten; die steht ja oft in einem viel größeren Zusammenhang. Ich habe lange nach Möglichkeiten gesucht, stärker ganzheitlich zu arbeiten. Deshalb mache ich derzeit ein Fernstudium zur Heilpädagogin.

Als Heilpädagogin hilft man Menschen mit Behinderung, im Alltag zurechtzukommen, und zwar indem man wirklich alle Stellschrauben nutzt. Dazu gehören Therapiegespräche ebenso wie Bewegungstherapie oder die Ausstattung des Arbeitsplatzes oder der Wohnung. Das ist ein Konzept, das zu meinen beruflichen Idealen passt. Das Studium dauert vier Jahre, 2023 will ich es abschließen.

In der Zwischenzeit arbeite ich als Logopädin und Sprechstundenhilfe in einer Kinderarztpraxis. Die Ärzte dort sind sehr aufgeschlossen und arbeiten gut mit Therapeuten zusammen. Dank Teilzeit kann ich jede Woche anderthalb Tage meinem Studium widmen.

Wenn ich fertig bin, möchte ich mit behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern und deren Familien arbeiten. Möglichkeiten gibt es da viele – in der Kinderarztpraxis, in einem sozialpädiatrischen Zentrum, an einer Frühförderstelle, in der freien Jugendhilfe – oder etwas von alldem. Wenn es gut läuft, wird es so ähnlich wie im britischen Gesundheitsdienst.«