Die Suche nach einem Physiotherapeuten endet hierzulande oft mit einer Entschuldigung: „Aufgrund kompletter Auslastung“, so schreibt etwa es eine bayerische Praxis auf ihrer Internetseite, gebe es die nächsten freien Termine erst in sechs Wochen. Andernorts ist es nicht besser: Wer etwa Krankengymnastik braucht, muss sich meist wochenlang gedulden. Es fehlt massiv an Personal.
Wo ein Mangel herrscht, da dürften immerhin die Geschäfte prächtig laufen. Bloß profitieren davon nicht alle gleichermaßen: Zwar sind die jährlichen Umsätze in der Physiotherapie zwischen 2017 und 2020 um 46 Prozent gestiegen.
Auf dem Gehaltskonto vieler angestellter Therapeuten kam das aber bei Weitem nicht an, wie der aktuelle Heilmittelreport der Krankenkasse Barmer zeigt, der WELT AM SONNTAG exklusiv vorliegt. So stieg der Durchschnittslohn der begehrten Fachkräfte im selben Zeitraum um gerade einmal 21 Prozent. Ihr Lohnzuwachs ist damit nicht einmal halb so groß wie das Plus der Arbeitgeber.
Das ärgert vor allem die Krankenkassen, hätten sie doch zuletzt zusätzliche Milliardenbeträge für Physiotherapien erstattet. „Mit einem höheren Gehalt gelingt es besser, Nachwuchs für diese Berufe zu gewinnen und damit langfristig die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu gewährleisten“, sagt Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Barmer, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
Es sei dringend an der Zeit, dass die Milliarden Euro auch dort ankommen, wo sie hingehörten. Bislang zeige sich aber kein anderer Trend: Die Preis- und Umsatzsteigerungen hielten auch im Jahr 2021 unvermindert an, heißt es von der Barmer.
Und so verwundert es kaum, dass es noch immer an Physiotherapeuten fehlt. Laut Bundesagentur für Arbeit zählen sie zu den am stärksten betroffenen Mangelberufen. Aktuell kommen rund 2,2 Jobangebote auf einen Bewerber, betonen Berufsverbände. Und bis eine offene Stelle neu besetzt wird, dauere es durchschnittlich 116 Tage.
Bessere Vergütung gefordert
Auch die Zahl der Auszubildenden stagniert seit Jahren. Im vergangenen Schuljahr waren rund 22.500 angehende Physiotherapeuten an den Schulen, wie Zahlen des Deutschen Verbands für Physiotherapie (ZVK) zeigen. Etwa genauso viele waren es schon zehn Jahre zuvor.
Bessere Löhne führen zu mehr Absolventen, mehr Absolventen zu schnelleren Terminen – so lautete schon die Idee des Gesetzgebers im Jahr 2019.
Mit dem sogenannten Terminservice- und Versorgungsgesetz hat das Bundesgesundheitsministerium die Preise angehoben und bundesweit vereinheitlicht.
„Gesetzlich Versicherte warten zu oft zu lange auf Arzttermine“, erkannte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) schon damals. „Deswegen sollen diejenigen besser vergütet werden, die helfen, die Versorgung zu verbessern.“ Eine weitere Erhöhung gab es zuletzt auch im August dieses Jahres.
Den niedergelassenen Praxen reicht das allerdings nicht. Die meisten Inhaber könnten die gestiegenen Vergütungen schwerlich eins zu eins an ihre Mitarbeiter weitergeben, sagt Ute Repschläger, Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands selbstständiger Physiotherapeuten (IFK). Es sei insgesamt noch immer zu wenig, um eine Praxis wirtschaftlich führen zu können.
Ein Problem sei der Investitionsstau, der sich über die Jahre aufgebaut habe. „Praxisinhaber müssen die gestiegenen Einnahmen auch nutzen, um dringende Anschaffungen zu tätigen und Rücklagen zu bilden“, sagt Repschläger.
Darüber hinaus würden auch die Kosten in allen Bereichen des Praxisbetriebs steigen, darunter Sach- und Energiekosten. Niedergelassene Praxen könnten ihren Mitarbeitern damit beispielsweise immer noch kein Gehalt zahlen, das vergleichbar ist mit den Löhnen im stationären Sektor.
Dort wird nach Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst bezahlt. „Ein physiotherapeutischer Praxisinhaber ist zudem bislang betriebswirtschaftlich schlechter gestellt als ein leitend angestellter Physiotherapeut im Krankenhaus“, sagt Repschläger.
„Schlusslicht Deutschland“
Tatsächlich verdienen Physiotherapeuten in Kliniken mit durchschnittlich 31.700 Euro im Jahr weiterhin deutlich besser als die Angestellten in den Praxen (27.500 Euro), heißt es von der Barmer. Der Unterschied habe damit im vergangenen Jahr durchschnittlich 15 Prozent betragen.
Um diese Lücke zu schließen, hätten Arbeitgeber ihre bisherigen Umsatzsteigerungen aber nicht einmal vollständig weitergeben müssen, beklagt Barmer-Chef Straub: „Die Absicht des Gesetzgebers, die Gehälter anzugleichen, wurde deutlich unterlaufen.“
Die Bezahlung sei aber längst nicht alles, betont der Deutsche Verband für Physiotherapie (ZVK). Auch die Ausbildung müsse modernisiert werden, um mehr junge Menschen für den Beruf zu begeistern. „Deutschland ist Schlusslicht in der Welt, was den Akademisierungsprozess angeht“, warnt eine Verbandssprecherin.
Der ZVK fordert von der Politik deshalb eine Novellierung hin zu einer hochschulischen Ausbildung mit hohem Praxisanteil. Dass das nötig ist, habe nicht zuletzt die Corona-Krise gezeigt: „Sowohl die Akutversorgung als auch die Rehabilitation bei Long Covid muss kontinuierlich an neue Erkenntnisse angepasst werden“, heißt es vom Verband.
Auch die Gewerkschaft Ver.di fordert Reformen in der Lehre. „Die Ausbildung muss kostenfrei sein und angemessen vergütet werden“, sagt Sylvia Bühler, Mitglied im Ver.di-Bundesvorstand. „Dass viele noch immer Geld mitbringen müssen, um diesen Mangelberuf zu erlernen, ist geradezu grotesk.“
Daneben fordert Bühler eine am Bedarf orientierte Personalausstattung. „Es nützt ja nichts, wenn die Therapeutin ihr Fach beherrscht, aber keine Zeit ist, den Patienten entsprechend professionell zu behandeln.“ Der Teufelskreis aus Überlastung, Berufsflucht und Fachkräftemangel müsse endlich durchbrochen werden, fordert Bühler.
Bis es so weit ist, werden Patienten wohl weiterhin wochenlang auf einen Termin warten müssen. Für viele zu lang: Wer etwa ein Rezept vom Arzt bekommt, muss es innerhalb von 28 Tagen einlösen – von den körperlichen Beschwerden mal ganz abgesehen.