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Corona-Ausbruch in Deutschland "Die Zahlen sind vollkommen unzuverlässig"

Wie gefährlich das Coronavirus ist, wissen Experten noch immer nicht genau. Hier erklärt der Statistikexperte Gerd Antes, was nun für eine Risikobewertung nötig ist und warum die Reaktion der Politik bislang richtig war.
Ein Interview von Julia Merlot
Mitarbeiter der Berufsfeuerwehr Köln im dritten Infektionsschutzzentrum der Stadt beim Test auf das Coronavirus

Mitarbeiter der Berufsfeuerwehr Köln im dritten Infektionsschutzzentrum der Stadt beim Test auf das Coronavirus

Foto: Henning Kaiser/ dpa

SPIEGEL: Herr Antes, Sie gelten als der Medizinstatistik-Experte in Deutschland. Wie gefährlich ist das Coronavirus aus Ihrer Sicht?

Antes: Wenn ich das wüsste. Auf der einen Seite sehe ich die Zahlen, bei denen es sehr viele Unsicherheiten gibt. Auf der anderen Seite sehe ich die menschliche Katastrophe, gerade dort, wo das Gesundheitssystem nicht mehr in der Lage ist, alle Kranken zu versorgen, etwa in Norditalien oder im französischen Elsass.

Zur Person
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Uniklinikum Freiburg

Gerd Antes ist Statistikexperte und Professor an der Medizinischen Universität Freiburg. Seit vielen Jahren setzt er sich dafür ein, dass medizinische Entscheidungen auf der Basis gesicherter Fakten getroffen werden. Er war Mitgründer des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin und bis 2018 Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums, das Übersichtsarbeiten zu medizinischen Fragestellungen erarbeitet.

SPIEGEL: Sind die Zustände dort nicht Beweis genug dafür, dass es ein Problem gibt?

Antes: Es gibt zweifellos ein Problem. Wir sehen in diesen Regionen, dass die Gesundheitssysteme überlastet sind, weil zu viele Menschen zur gleichen Zeit schwer erkranken. Das unterscheidet den Corona-Ausbruch von der jährlichen, sich vergleichsweise langsam ausbreitenden Grippewelle.

Gleichzeitig wissen wir allerdings nicht, wie tödlich das neue Coronavirus im Vergleich zur Grippe ist und wie viel schneller genau es sich ausbreitet. Wenn man es als Bild beschreiben will, warten wir auf einen Tsunami, wissen aber noch nicht einmal annähernd, wie hoch die Welle wird.

"Es gibt zwei enorme Probleme mit den Zahlen."

SPIEGEL: Welche Informationen fehlen?

Antes: Es gibt zwei enorme Probleme mit den Zahlen: Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich bislang mit dem neuen Coronavirus infiziert haben und wie viele jeden Tag hinzukommen. Außerdem ist unklar, wie viele Menschen ursächlich an einer Infektion sterben.

Symptome von Covid-19

SPIEGEL: Können Sie das genauer erklären?

Antes: Die Corona-Fälle, von denen wir jeden Tag im Fernsehen und Radio hören, beschreiben, wer positiv auf das neue Virus getestet wurde. Wie viele Menschen sich tatsächlich infizieren, wissen wir dagegen nicht. Die Schätzungen variieren extrem. Je nach Experten ist davon die Rede, dass sich fünf- bis zehnmal mehr Menschen infizieren als nachgewiesen werden. Manche Schätzungen liegen beim Zwanzigfachen oder sind noch höher.

So eine Streuung ist ein sicheres Zeichen, dass niemand auch nur ungefähr weiß, wo die Wahrheit liegt. In der Folge können wir nur sehr grob abschätzen, wann und in welchem Umfang die Krankenhäuser mit schwer Erkrankten rechnen  müssen.

SPIEGEL: Und die Zahl der Corona-Toten?

Antes: Entscheidend ist, wie die Todesfälle gezählt werden. Derzeit gilt im Prinzip jeder Tote, der mit dem Virus in Verbindung steht, als Corona-Todesfall. Die Wahrheit ist deutlich komplexer, denn viele von denen, die jetzt am Coronavirus sterben, wären möglicherweise auch ohne das Virus gestorben, aber später. Nehmen wir etwa eine Person, die schwer herzkrank ist. Wenn sie sich nun mit dem Coronavirus infiziert und stirbt, war dann das Herzleiden entscheidend oder das Virus? Stirbt jemand am oder mit dem Virus? Das lässt sich kaum auseinanderdividieren. 

SPIEGEL: Ist das nicht bei allen Krankheiten so?

Antes: Grundsätzlich besteht das Problem immer. Bei Krankheiten, die nicht so im Fokus stehen wie Covid-19, ist aber davon auszugehen, dass öfter die Grunderkrankung als Todesursache erfasst wird. In der Geriatrie gibt es seit Jahren die Forderung, mehr zu obduzieren, um Todesursachen exakt zu bestimmen. Das dürfte sich in der aktuell angespannten Lage allerdings kaum umsetzen lassen.

Wir werden daher erst in ungefähr acht Monaten in der jährlichen Todesstatistik sehen, wie viele Menschen durch das Coronavirus in diesem Jahr zusätzlich gestorben sind. Die Zahlen, die es derzeit dazu gibt, sind vollkommen unzuverlässig.

"Deutschland hatte keine andere Wahl, als dem Virus erst mal mit drastischen Maßnahmen zu begegnen."

SPIEGEL: Politikern und Kliniken nützt die Statistik am Ende des Jahres wenig, wenn sie jetzt Entscheidungen treffen müssen. Wie können sie mit den Unsicherheiten umgehen?

Antes: Sie sind gezwungen, auf Basis der Informationen zu handeln, die da sind. Berücksichtigt man die Gesamtsituation und die Erfahrungen aus anderen Staaten, hatte Deutschland keine andere Wahl, als dem Virus erst mal mit drastischen Maßnahmen zu begegnen. So konnten wir Zeit gewinnen. Die müssen wir jetzt nutzen, um eine bessere Datenlage zu schaffen und künftig fundierter entscheiden zu können. Wir befinden uns da in einem enormen Lernprozess.

SPIEGEL: Die deutschen Behörden geben an, bereits sehr viel zu testen und die Kapazitäten noch ausweiten zu wollen. Wird das helfen?

Antes: Große Testreihen erlauben einen besseren Überblick. Allerdings kann man die Zahlen dann nicht mehr mit den derzeit nachgewiesenen Fällen vergleichen. Wenn in Deutschland plötzlich viel mehr getestet wird, findet man zwangsläufig auch mehr Infizierte. Ob sich wirklich mehr Menschen angesteckt haben, weiß man dann aber nicht. In meinem persönlichen Umfeld sehe ich völlig inkonsistente, teils chaotische Entscheidungen, wer einen Test erhält. Ob die Rückkehr aus Risikogebieten, Symptome oder die Bereitschaft, die Kosten privat zu übernehmen, maßgeblich sind, scheint lokal nach Belieben gehandhabt zu werden. Wie viele Personen in der Gesamtbevölkerung infiziert sind, ist daher unklar und wird es bei dieser Art zu testen auch bleiben.

SPIEGEL: Was ist die Alternative?

Antes: Wir müssen sehr regelmäßig, vielleicht jede Woche, einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt auf Infektionen untersuchen. Dafür sind sehr viele Tests nötig. Das bindet Ressourcen und ist teuer, wäre in Anbetracht der Lage aber angemessen, um eine solide Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Aus dem Anteil der Infizierten in einer solchen Stichprobe lassen sich genaue Rückschlüsse auf die Gesamtsituation ziehen. Damit wird es deutlich leichter, abzuschätzen, ob oder wie die Zahl der Neuinfektionen steigt oder abnimmt und mit wie vielen Patienten und Intensivpatienten die Krankenhäuser in den nächsten Wochen rechnen müssen.

"Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen Alarmismus auf der einen und Verharmlosung auf der anderen Seite."

SPIEGEL: Forscher wollen bald auch untersuchen, wie viele Menschen bereits Antikörper gegen das Virus entwickelt haben, also bereits infiziert waren.

Antes: Solche Tests sind unverzichtbar, um den Teil der Bevölkerung zu bestimmen, der infiziert war und die Infektion unbeschadet überstanden hat, damit also wahrscheinlich geschützt ist. Allerdings gibt es derzeit noch keinen validierten Antikörpertest. Soweit ich inoffiziell gehört habe, könnte aber bald einer zur Verfügung stehen.

Das Verrückte bei diesen Untersuchungen ist: Je mehr durchgemachte Infektionen nachgewiesen werden, desto besser. Denn jeder unbemerkte Fall lässt den Anteil der schweren Erkrankungen unter allen Infizierten schrumpfen. Die Angst machenden Zahlen sind also eine positive Botschaft. Umgekehrt wäre eine geringe Immunität der Bevölkerung ein Zeichen dafür, dass der Anteil schwerer Verläufe recht hoch ist und der vorhandene Schutz geringer ist.

SPIEGEL: Über- oder unterschätzen wir die Coronavirus-Pandemie aufgrund der wackligen Datenbasis?

Antes: Die Zahlenlücken bergen Risiken in beide Richtungen. Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen Alarmismus auf der einen und Verharmlosung auf der anderen Seite. Gegenwärtig habe ich das Gefühl, dass die Zahlen eher überschätzt werden und wir mehr Vertrauen haben können, dass die derzeitigen Maßnahmen wirken und das deutsche Gesundheitssystem ausreichend vorbereitet ist auf die Infizierten, die es geben wird.

Im Vergleich zu Großbritannien, Italien und auch Frankreich sind die Kapazitäten in unseren Krankenhäusern sehr hoch. Vielleicht liege ich mit meinem Gefühl aber auch vollkommen falsch. Für einigermaßen sichere Entscheidungen brauchen wir dringend verlässliche Daten.

SPIEGEL: Einige Staaten, etwa Schweden, verfolgen die Strategie, vor allem Risikogruppen zu schützen. Der Rest der Bevölkerung führt sein Leben weitgehend weiter wie bisher. Wäre das ein Konzept, das auch in Deutschland funktionieren könnte?

Antes: Auch Großbritannien hat den Ansatz zu Beginn der Pandemie verfolgt. Ziel ist es, möglichst schnell eine möglichst große Immunität in der Allgemeinbevölkerung zu erzeugen, sodass die Menschen, denen das Virus gefährlich werden kann, schneller durch eine beginnende Herdenimmunität geschützt sind. Ich bin allerdings der Meinung, dass es unmöglich ist, einzelne Bevölkerungsgruppen sicher vom sonstigen Infektionsgeschehen zu trennen.

"Wir wissen noch gar nicht genau, wer alles zur Risikogruppe zählt."

SPIEGEL: Was ist das Problem?

Antes: Auch alte Menschen müssen einkaufen und fahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich habe kürzlich von einem Supermarkt erfahren, der jeden Tag zwei Stunden für Menschen über 60 öffnet. Das kann helfen, das Infektionsrisiko zu senken, ist aber kein sicherer Schutz. Auch dort kann sich der Kunde infizieren. Es wird kaum möglich sein, sie langfristig sicher vor einer Infektion zu schützen, während das Virus in der breiten Bevölkerung grassiert. Außerdem wissen wir noch gar nicht genau, wer alles zur Risikogruppe zählt.

SPIEGEL: Wie kann es dann weitergehen?

Antes: Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. In den kommenden Wochen geht es darum, mehr Informationen über das Virus zu sammeln und zu bewerten, ob die aktuellen Maßnahmen greifen. Im Moment erlebe ich die Gesellschaft als sehr diszipliniert. Es wird Abstand gehalten und aufeinander geachtet. Bleibt die Frage, ob das nur der erste Schock ist oder die Motivation sogar noch steigt, wenn die Menschen merken, dass die Maßnahmen wirken.

Sollte das der Fall sein, könnte man wieder etwas liberalisieren und auch mehr Geschäfte öffnen, um die wirtschaftlichen Schäden zu verringern.

"Es geht darum, Risiken und Chancen aller Optionen abzuwägen."

SPIEGEL: Sollte die Gesundheit hier nicht vor wirtschaftlichen Interessen stehen?

Antes: Natürlich, nur kann man das so isoliert nicht betrachten. Es geht darum, Risiken und Chancen aller Optionen abzuwägen. Von den aktuellen Schutzmaßnahmen sind deutlich mehr Menschen betroffen als direkt vom Coronavirus bedroht. Riskieren wir eine dauerhafte Rezession, bedeutet das den wirtschaftlichen und persönlichen Schaden oder sogar Ruin für Millionen Menschen. Das kann ebenfalls schwere gesundheitliche Folgen haben. Dazu kommen schwere soziale Schäden, wie etwa häusliche Gewalt und Vereinsamung, ebenfalls mit gesundheitlichen Auswirkungen.

Es klingt hart, aber wir werden in Kauf nehmen müssen, dass am oder mit dem Coronavirus Menschen sterben. Die entscheidende Frage ist, werden es 20.000 oder 30.000 sein, wie in einer heftigen Grippesaison, oder eher 100.000 oder mehr, wie es durch die Medien geht, und welche gesundheitlichen Konsequenzen hätte im Gegenzug ein langfristiger Shutdown? Finden wir in den nächsten Wochen und Monaten Antworten auf diese Fragen, wäre das Grund für ein bisschen Optimismus.