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Interview mit Edzard Ernst "Schätze in der Pflanzenmedizin"

Seit mehr als 20 Jahren untersucht Edzard Ernst alternative Heilmethoden. Er erklärt, was die Schulmedizin von Homöopathie und Co. lernen kann und welche Verfahren wirklich helfen.
Fläschchen mit homöopathischen Präparaten: "Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch nur ein einziges Molekül der Ausgangssubstanz in dem Medikament befindet, geht gegen null"

Fläschchen mit homöopathischen Präparaten: "Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch nur ein einziges Molekül der Ausgangssubstanz in dem Medikament befindet, geht gegen null"

Foto: Frank Rumpenhorst/ dpa
Zur Person
Foto: Florian Generotzky/ SPIEGEL Wissen

Edzard Ernst, der Arzt trat seine erste Stelle 1978 in einer Münchner Naturheilklinik an. In Wien war er Professor für Physikalische Medizin und Rehabilitation - bis zu seiner Berufung ins englische Exeter, wo er ab 1993 den Lehrstuhl für Komplementärmedizin aufbaute. Ernst, 65, gilt als einer der führenden kritischen Erforscher sanfter Methoden, von Akupunktur bis Homöopathie. 2012 wurde er emeritiert.

SPIEGEL: Herr Ernst, viele Menschen empfinden die Schulmedizin als herzlose Reparaturanstalt, die an Symptomen herumdoktert, ohne den Menschen als Ganzes zu sehen. Können Sie das verstehen?

Ernst: Wenn ich sehe, was meine kranke Frau jetzt manchmal bei Arztbesuchen erlebt, dann schon. Aber das liegt nicht an der sogenannten Schulmedizin: Empathie und Hingabe sind Kennzeichen jeder guten Medizin. Wenn sie fehlen, ist es schlechte Medizin - egal, ob Neurologie, Gynäkologie oder Naturheilkunde. "Schulmedizin" ist übrigens eine Begriffsschöpfung des Homöopathie-Erfinders Samuel Hahnemann und seiner Anhänger, die damit die etablierten Doctores verunglimpfen wollten.

SPIEGEL: Als junger Arzt waren Sie Homöopath. Wie kam es dazu?

Ernst: Ich stamme aus einer Arztfamilie. In Bad Tölz, wo wir wohnten, lebte einer der berühmtesten deutschen Homöopathen, Willibald Gawlik. Der war unser Hausarzt. Ich habe als Kind jede Menge Globuli geschluckt, für mich war das Medizin.

SPIEGEL: Gegen was hat man Ihnen die Kügelchen gegeben?

Ernst: Gegen alles. Sogar gegen Gelbsucht, und ich wurde gesund. Wenn die Krankheit verschwindet, zieht man als Laie den Schluss, dass die Mittel gewirkt haben - damals war ich Laie.

SPIEGEL: "Wer heilt, hat recht", heißt es.

Ernst: Nur hat mein Homöopath mich eben nicht geheilt! Mein Körper hat sich selbst geheilt. Das hatte mit den Kügelchen nichts zu tun. Viele Krankheiten, vor allem die leichteren, heilen mit der Zeit von selbst wieder aus.

SPIEGEL: Das wissen Sie heute...

Ernst: ... richtig. Und ich gebe zu, dass es bis zu dieser Erkenntnis etwas gedauert hat. Meine erste Stelle als Arzt hatte ich im Krankenhaus für Naturheilweisen in München, damals die einzige homöopathisch geführte Klinik in Deutschland. Da verstärkte sich mein Eindruck, dass es Patienten dank der Globuli bessergeht. Im Studium hatte ich Medizin gelernt, aber nicht, kritisch zu denken. Erst, als ich Anfang 1980 eine Forschungsstelle in London annahm und Wissenschaftler wurde, habe ich mir das allmählich angeeignet.

SPIEGEL: Sie haben später als Professor für Komplementärmedizin viele alternative Methoden streng wissenschaftlich untersucht. Welche Erkenntnisse haben Sie über die Homöopathie gewonnen?

Ernst: Der Homöopath versucht, Mittel zu finden, die auf die Gesamtsymptomatik des Patienten passen. Homöopathen fragen Sie Dinge, die Sie noch nie gefragt worden sind. Das dauert lange, ist sehr einfühlsam - und genau das ist der Trick: Das Anamnesegespräch ist eine Art amateurhafte Psychotherapie. Die Menschen fühlen sich verstanden, und schon dadurch geht es ihnen besser. Heute besteht überhaupt kein Zweifel: Neben dem Placeboeffekt der Globuli und dem natürlichen Heilungsprozess ist der Kontakt mit dem empathischen Arzt das entscheidende Therapeutikum der Homöopathen.

Globuli im Test: "Kügelchen wirken nicht besser als Placebos"

Globuli im Test: "Kügelchen wirken nicht besser als Placebos"

Foto: Corbis

SPIEGEL: Und die Globuli wirken nicht?

Ernst: Da ist nichts drin, was Heilung bewirken könnte! Ein Grundprinzip der Homöopathie ist es, den Wirkstoff extrem zu verdünnen. Der Lehre zufolge verstärkt er dadurch seine Kraft, deshalb nennt man das "Potenzieren". Wird der Wirkstoff 1 zu 10 mit Wasser verdünnt, handelt es sich um eine D-Potenz, bei 1 zu 100 um eine C1-Potenz. Die noch einmal 1 zu 100 verdünnt ergibt eine C2 - und so geht das weiter bis zu C30 oder sogar C300 und mehr. Ab C12 ist praktisch kein Wirkstoff mehr nachweisbar. Genauer gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich auch nur ein einziges Molekül der Ausgangssubstanz in dem Medikament befindet, geht gegen null.

SPIEGEL: Einige Homöopathen vertreten die Theorie, dass der Wirkstoff das Wasser beeinflusst.

Ernst: Soll heißen, dass Wasser sozusagen ein Gedächtnis habe, indem sekundäre chemische Strukturen entstehen? Vielleicht gibt es die sogar, aber die halten sich höchstens für Nanosekunden. Zudem fehlt ein plausibler Wirkmechanismus für Effekte auf unsere Gesundheit.

SPIEGEL: Obwohl das Prinzip der Homöopathie den Naturgesetzen widerspricht, hat man ihre Wirkung an Patienten wissenschaftlich gründlich untersucht. Was kam dabei heraus?

Ernst: Es gibt inzwischen etwa 200 klinische Studien zur Homöopathie, die den Standards der evidenzbasierten Medizin so einigermaßen entsprechen: Patienten mit den gleichen Beschwerden wurden einer Behandlung zugelost und entweder mit Homöopathie oder mit einem Placebomedikament behandelt. Die besten dieser Studien zeigen: Die Kügelchen wirken nicht besser als Placebos. Es existieren natürlich auch einige Studien mit positivem Ergebnis. Aber das ist statistisch gesehen nicht überraschend: Die Zufallswahrscheinlichkeit beträgt bei solchen Studien immer fünf Prozent.

SPIEGEL: Es ist statistischer Zufall, dass die Studien auch manchmal ein gutes Ergebnis für die Homöopathie bringen?

Ernst: Genau. Hinzu kommt das Phänomen des "Publication-Bias", der Verzerrung durch die hoffnungsfrohen Autoren: Positive Studien werden publiziert, und die negativen verschwinden in der Schublade.

SPIEGEL: Das Problem hat aber doch nicht nur die Alternativmedizin!

Ernst: Das stimmt. Die evidenzbasierte Medizin, also die Überprüfung von Behandlungsmethoden nach wissenschaftlichen Standards, ist etwas ziemlich Neues. Früher haben Ärzte vor allen Dingen auf ihre Chefs gehört, die Medizin war also "eminenzbasiert". Man hatte Erfahrungswerte, aber keine unabhängigen Belege für die Wirksamkeit. Inzwischen sind aber 80 bis 90 Prozent der herkömmlichen Medikamente, die im klinischen Alltag häufig verschrieben werden, durch gute Studien überprüft worden und tatsächlich wirksam.

SPIEGEL: Könnte es nicht sein, dass aufgrund genetischer Unterschiede eine alternative Methode bei dem einen Menschen etwas bewirkt und beim anderen nicht?

Ernst: Das kann durchaus sein. Doch man müsste wissen, welche Subgruppen medizinisch unterschiedlich reagieren: Sind es etwa Menschen mit schwarzer oder mit weißer Hautfarbe, Blonde oder Brünette? Dann könnte man genetische Faktoren analysieren und Untergruppen bilden, an denen man die Therapien testet. Ansonsten ist das reine Spekulation, und mit Spekulation sollte man in der medizinischen Routine nicht arbeiten.

SPIEGEL: Trotzdem fragen Anhänger ganzheitlicher Methoden oft: Wieso muss man denn alles hinterfragen, wenn es doch geholfen hat?

Ernst: Weil dem Patienten eventuell ja noch besser geholfen werden könnte! Wenn ich als herkömmlich arbeitender Arzt eine gute therapeutische Beziehung zum Patienten aufbaue und ihn außerdem mit einem Medikament behandle, das besser wirkt als Placebo, dann helfe ich ihm doch mehr als der Heilkundler, der nur den Placeboeffekt einsetzt. Wenn ich dem Patienten lediglich ein Homöopathikum verschreibe, bringe ich ihn um etwas, was ihm eigentlich zusteht, nämlich die spezifisch wirksame Behandlung.

SPIEGEL: Sie halten die Behandlung mit Placebomedikamenten für unethisch?

Ernst: Ja, zumindest dann, wenn es etwas gibt, was über Placebo hinaus wirkt.

SPIEGEL: Bei vielen chronischen Leiden wie Erschöpfung, Neurodermitis oder Rückenschmerzengibt es keine Medikamente, die die Ursache der Krankheit bekämpfen. Sind Sie denn in solchen Fällen für Placebos?

Ernst: Es gibt, soweit ich weiß, nur wenige Symptome, bei denen die Medizin nicht spezifisch helfen kann - zumindest Schmerzmittelkönnen wir einsetzen. Und selbst wenn es gar nichts gibt, halte ich es für besser, dem Patienten ehrlich zu sagen: Du musst versuchen, damit zurechtzukommen und dein Leben darauf auszurichten. Das ist erst recht dann wichtig, wenn es sich um eine Krankheit handelt, die zum Tod führen wird.

Kneipp-Wandern in Bad Olsberg: Zur Stärkung gibt es Quellwasser

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Foto: David Klammer/ SPIEGEL Wissen

SPIEGEL: Ist es nicht verständlich, dass Eltern ihrem allergiegeplagten Kind lieber Kügelchen oder Kräuter verabreichen als Kortison? Oder dass es einem Schmerzpatienten vor der Fließbandvisite beim niedergelassenen Arzt graust?

Ernst: Die konventionelle Medizin könnte von der alternativen viel lernen - und zwar in der Art, wie sie mit Patienten umgeht. Für mich besteht die Medizin nicht nur aus Wissenschaft, sondern auch aus Heilkunst. Erst beides zusammen ist gute Medizin. Leider fehlt bei konventionellen Ärzten oft die Kunst. Und bei der Alternativmedizin fehlt oft die Wissenschaft. Beides ist schlecht, weil es für den Patienten nicht optimal ist.

SPIEGEL: Selbst Menschen, die Homöopathie für Humbug halten, schwören oft auf Akupunktur. Passt das zusammen?

Ernst: Die Akupunktur unterscheidet sich von der Homöopathie ganz erheblich. Die Studien legen heute nahe, dass sie bei einigen Symptomen wirksam ist, dazu gehören Schmerzen und eventuell Übelkeit. Aber ein Allheilmittel ist sie nicht.

SPIEGEL: Die chinesische Lehre postuliert Meridiane im Körper. Es soll Bahnen geben, durch die Energie fließt und die durch die Nadeln manipuliert werden - eine zweifelhafte Theorie.

Ernst: Meridiane und Energieströme sind in der Tat reine Phantasieprodukte. Die Nadeln wirken auf andere Weise - dazu gibt es interessante neurophysiologische Erklärungsansätze. Wenn man die Datenlage im Gesamtbild anschaut und nicht dem Ganzen ablehnend gegenübersteht, so kommt man doch zu dem Schluss, dass bei einigen wenigen Indikationen die Akupunktur hilfreich sein könnte.

SPIEGEL: Gibt es weitere erfolgversprechende Methoden, die noch nicht ausreichend erforscht worden sind, etwa die Neuraltherapie?

Ernst: Die habe ich als junger Arzt auch mal eingesetzt: Man spritzt Lokalanästhetika an sogenannte Herden meist direkt unter die Haut. Wenn ich einem Rückenschmerzpatienten entlang der Wirbelsäule Schmerzmittel spritze, wundert es nicht, wenn das die Beschwerden lindert. Die Neuraltherapeuten meinen aber, sie könnten zum Beispiel eine Blinddarmnarbe als Störherd unterspritzen und dann würde die Migräne für immer verschwinden. Das kann nicht funktionieren, zumindest gibt es keine Evidenz, dass es hilft.

SPIEGEL: Das ist ja in der Chiropraxis oder Osteopathie ähnlich. Die soll ja auch nicht nur Knie- oder Rückenschmerzen lindern, sondern alle möglichen Beschwerden. Kann das sein?

Ernst: Nein, wohl kaum. Und in diesem Anspruch, ein Allheilmittel zu sein, besteht auch eine Gefahr. Der Patient geht mit Rückenschmerzen zum Chiropraktiker oder Osteopathen. Man redet und stellt fest, dass es ein kleines Kind in der Familie gibt. Dann sagt der Therapeut: Ihr Kind müssen Sie nicht impfen, wir machen Wirbelsäulenmanipulation, und ich verkaufe Ihnen noch ein paar Vitamine. Und wenn das Kind eine Mittelohrentzündung hat, kommen Sie gleich zu mir. In den USA bezeichnen sich die Chiropraktiker als Allgemeinmediziner. Das ist reiner Wahnsinn!

Hydrotherapie: Die Unterwassermassage soll eine durchblutungsfördernde Wirkung haben

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Foto: David Klammer/ SPIEGEL Wissen

SPIEGEL: Also taugt Chiropraxis nichts?

Ernst: Sie ist sogar häufig gemeingefährlich.

SPIEGEL: Warum?

Ernst: Die Hälfte aller Patienten, die sich vom Chiropraktiker behandeln lassen, haben Nebenwirkungen, die ein, zwei Tage andauern. Meist sind das Schmerzen, entweder direkt an der Wirbelsäule, wo manipuliert wurde, oft aber auch anderswo. Was würden Sie von einem Medikament halten, das einerseits unwirksam ist und andererseits bei 50 Prozent aller Patienten Nebenwirkungen hat? Schlimmer noch: Bei Manipulationen im Nackenbereich kann es zu Verletzungen der Arteria vertebralis kommen. Dann haben Sie einen Schlaganfall und können daran sterben. Rund 500 ernste Zwischenfälle sind in der Literatur beschrieben - die Dunkelziffer ist riesig, das heißt, die wirkliche Zahl mag um Dimensionen höher liegen.

SPIEGEL: Chiropraktiker haben den Co-Autor ihres Buches "Gesund ohne Pillen", den Physiker und Wissenschaftsjournalisten Simon Singh, wegen Verleumdung vor Gericht gebracht.

Ernst: Er hat den Prozess schließlich gewonnen - aber es hat ihn zwei Lebensjahre und 200.000 britische Pfund gekostet.

SPIEGEL: Bei der Osteopathie geht es sanfter zu, ist die auch gefährlich?

Ernst: Eine zentrale Technik der Chiropraktiker ist es, das Gelenk aus dem anatomisch möglichen Bereich zu hebeln. Osteopathen wenden eher Weichteiltechniken an, und da passiert tatsächlich sehr viel weniger.

SPIEGEL: In Hessen gibt es seit Ende 2008 "staatlich anerkannte" Osteopathen. Da muss es sich doch um eine wirksame Methode handeln, oder?

Ernst: Der Eindruck trügt: Die Wirksamkeit der Osteopathie ist in weiten Bereichen völlig unbelegt, und Osteopathen denken, ihre Hände seien ein Allheilmittel.

SPIEGEL: Ein Reizdarm lässt sich damit also nicht kurieren?

Ernst: Ich glaube, es gibt hierzu eine Studie. Eine einzige! Damit kann man nichts beweisen: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer.

SPIEGEL: Auf vielen Entbindungsstationen schauen Osteopathen inzwischen nach, ob es Wirbelsäulenfehlstellungen gibt und das Baby deshalb schreit. Was halten Sie davon?

Ernst: Wenn es eine Fehlstellung gibt, ist der Osteopath kontraindiziert. Dann sollte ein Kinderorthopäde draufgucken. Es ist nicht belegt, dass die Osteopathie hier irgendeinen Platz hätte. Ich würde sie aus dem Kreißsaal schmeißen.

SPIEGEL: Sie sind Gründungsmitglied des anfangs EU-geförderten Krebsforschungsverbunds "CAM Cancer". Was ist das?

Ernst: Wir erstellen systematische Reviews zu alternativen Heilmethoden in Verbindung mit Krebsund stellen diese ins Internet. Bisher richtet sich das Angebot an Ärzte, später einmal sollen die Informationen auch für Patienten aufbereitet werden.

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Foto: David Klammer/ SPIEGEL Wissen

SPIEGEL: Gibt es denn wirksame alternative Mittel gegen Krebs?

Ernst: Nein, die Alternativmedizin hat keine einzige wirksame Krebstherapie, aber unterstützende Behandlung kann durchaus sinnvoll sein. Da gibt es einiges, was die Lebensqualität verbessert. Wenn ein Krebspatient sehr ängstlich ist, können ihm beispielsweise Entspannungstechniken helfen.

SPIEGEL: Meditation?

Ernst: Ich empfehle Entspannungstraining nach Jacobsen oder Autogenes Training. Im Bereich Meditation haben viele Angebote sektenartigen Charakter.

SPIEGEL: Wie sieht es mit pflanzlichen Therapien aus?

Ernst: Es existiert meines Wissens nach kein Pflanzenextrakt, der den Krebs selber angehen kann.

SPIEGEL: Was hat es denn mit der Mistel als Krebsmittel auf sich? Rudolf Steiner soll gesagt haben, sie hänge am Baum wie ein Tumor, und da Ähnliches Ähnliches heile, könne sie Tumore bekämpfen. Heute weiß man, dass die Mistel tatsächlich wirksame Bestandteile hat. Wie kommt das?

Ernst: Mistel-Lektine können Zellen abtöten, sie sind hochgiftig. Wie konnte Steiner das wissen? Er hatte einfach ein klein wenig Glück: Sehr viele Pflanzen haben solche giftigen Inhaltsstoffe. Aber ob die Mistel bei Krebs wirklich hilft, ist aufgrund der Studienlage eher fraglich.

SPIEGEL: Sie würden Krebspatienten keine Misteltherapie empfehlen.

Ernst: Auf gar keinen Fall als Alternative zur konventionellen Behandlung!

SPIEGEL: Und etwas, das hilft, die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu ertragen?

Ernst: Bei Erbrechen vielleicht Ingwer. Aber man muss immer sehr genau überlegen, ob es dadurch zu Interaktionen mit den Krebsmedikamenten kommen könnte. Ich wäre da eher zurückhaltend.

SPIEGEL: Haben Sie Hoffnung, dass auf der Suche nach natürlichen Methoden gegen Krebs noch Wirksames gefunden wird?

Ernst: Klar! Schauen Sie doch mal, wie viele Krebsmittel ursprünglich aus dem Pflanzenreich kommen: fast die Mehrzahl. Diese Art von Forschung gilt natürlich nicht als Alternativmedizin. Aber sie zeigt, dass im Bereich Pflanzenmedizin wohl noch viele Schätze zu bergen sind.

SPIEGEL: Das Chemotherapeutikum Taxol etwa hat einen pflanzlichen Ursprung. Doch die Hoffnung, dass es dadurch sanfter wirkt, erfüllt sich nicht.

Ernst: Meine Frau bekommt es gerade. Ich habe noch nie die Wirkung eines so starken Giftes auf einen nahestehenden Menschen gesehen. Sie ist verheerend. Natürlich soll es die Krebszellen töten, aber es schädigt auch Nerven- und Blutzellen. Diese Nebenwirkungen sind wirklich schwer zu ertragen.

SPIEGEL: Die Gleichsetzung von natürlich mit sanft ist irreführend?

Ernst: Ja, die ist naiv. Aber sehr werbewirksam. Harmlos ist nicht einmal Akupunktur.

SPIEGEL: Was kann dabei passieren?

Ernst: Wenn Nichtärzte das betreiben, dann geht schon mal eine Nadel in die Lunge. Es sind ungefähr hundert Todesfälle durch Akupunktur berichtet worden; und auch hier ist die Dunkelziffer wohl enorm.

SPIEGEL: Jetzt, im Herbst, gehen Schnupfen, Grippe und Husten um. Gibt es gute alternative Mittel, um das Immunsystem zu stärken, Echinacin etwa?

Ernst: Bei dem Pflanzenmittel Echinacin ist die Studienlage ziemlich verwirrend. Wenn Sie Optimist sind, können Sie es bei Schnupfensymptomen nehmen. Sehr viel mehr gibt es aber nicht.

SPIEGEL: Eigenblutbehandlungen sollen das Immunsystem ebenfalls trainieren, sagen Heilpraktiker.

Ernst: Die etwas abenteuerliche Theorie ist, dass der Körper sich mit dem eigenen Eiweiß auseinandersetzt und Abwehrkörper generiert, die vielleicht bei Infekten helfen könnten. Studien gibt es ganz wenige dazu. Wir selbst haben mal eine Eigenblutstudie gemacht - mit positivem Ergebnis.

SPIEGEL: Was haben Sie untersucht?

Ernst: Die Wirkung bei chronischen Ekzemen. Eine relativ kleine Studie, so um die 40 Patienten - umso erstaunlicher das positive Ergebnis, das eine Linderung der Symptome andeutet.

SPIEGEL: Die Fallzahl ist aber zu klein, um damit weitreichende Aussagen zu treffen?

Ernst: Eine einzige positive Studie kann immer purer Zufall sein, egal wie gut sie gemacht ist. Wir waren stolz auf unser Studiendesign: Die Hälfte bekam statt ihres Bluts eine Kochsalzlösung in den Allerwertesten injiziert. Keiner der Patienten wusste natürlich, welche Art Spritze er bekam.

SPIEGEL: Und dennoch halten Sie es für unbewiesen, dass Eigenblutbehandlung das Immunsystem in Schwung bringt.

Ernst: In der Medizin sollte alles zunächst einmal als unbewiesen eingestuft werden, was nicht bewiesen ist - und unbewiesene Dinge sollte man nicht routinemäßig einsetzen. Es kann natürlich sein, dass Bungee-Jumping gegen eingewachsene Zehennägel hilft. Das muss aber erst einmal jemand nachweisen.

Detox-Behandlung: "Die Idee von derartiger Entgiftung ist der reinste Blödsinn"

Detox-Behandlung: "Die Idee von derartiger Entgiftung ist der reinste Blödsinn"

Foto: Corbis

SPIEGEL: Die Anhänger der alternativen Medizin meinen, die Pharmaindustriehabe kein Interesse an der Erforschung sanfter Methoden. Viele Naturheiler wollen aber auch ungern erfahren, dass ihre Angebote nicht wirken. Wer forscht denn überhaupt?

Ernst: Mein Eindruck ist, dass die Lehrstühle für Alternativmedizin in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schießen. Mich stört dabei, dass so gut wie alle von überoptimistischen Wortführern dieser Richtung besetzt sind. Ich wäre sehr dafür, dass die Forscher selbst überprüft werden: In welchem Ausmaß kommen sie bei ihren Studien zu positiven Resultaten? Wenn das häufig der Fall ist, dann sind die Ergebnisse ziemlich wahrscheinlich falsch-positiv. Ich habe das bei ein paar Kollegen mal gemacht. Bei vielen war alles positiv, was die publiziert haben. Zum Fürchten!

SPIEGEL: Wirklich unabhängige Forschungen gibt es nicht?

Ernst: Bei uns in Exeter gab es das mal.

SPIEGEL: Sie haben keinen Nachfolger?

Ernst: Nein.

SPIEGEL: Liegt das an dem Streit mit Prinz Charles? Sie haben ihn als Schlangenöl-Verkäufer bezeichnet, weil er einen Extrakt aus Löwenzahn und Artischocken als Entgiftungsmittel verkauft hat.

Ernst: Ja, als Detox-Kur - dabei ist die Idee von derartiger Entgiftung der reinste Blödsinn. Aber der Konflikt mit dem Prinzen ist schon älter.

SPIEGEL: Was ist passiert?

Ernst: Prinz Charles hat mal ein Gutachten über den ökonomischen Nutzen von Alternativmedizin im britischen Gesundheitssystem in Auftrag gegeben. Ich wurde dazu befragt, doch die Endfassung des Gutachtens wollte ich nicht mittragen, weil darin beispielsweise stand, dass Homöopathie gegen Asthma viel Geld einsparen würde. Als die Presse darüber schrieb, wurde ich kritisch zitiert, daraufhin hat Prinz Charles' Sekretär mich des Vertrauensbruchs bezichtigt. Es kam zu einer unangenehmen 13-monatigen Untersuchung, am Ende wurde ich freigesprochen. Ich kann das zwar nicht beweisen, aber ich vermute einen Zusammenhang: Danach brach alle Unterstützung für unsere Forschung zusammen. Die Geschichte mit dem Schlangenöl war dann lediglich meine kleine Rache am Prinzen.

SPIEGEL: Apropos Schlangenöl: Sie haben den Überblick über unorthodoxe Methoden weltweit, etwa Ayurveda oder chinesische Kräuterheilkunde. Gibt es irgendwo Vielversprechendes?

Ernst: Es wäre erstaunlich, wenn nicht unter den Tausenden asiatischen Kräutermitteln auch wirksame Substanzen wären. Im Moment ist die Datenlage jedoch noch recht verwirrend. Es gibt eine Menge Studien aus China, aber die sind grundsätzlich immer positiv. Wir haben mal 2000 chinesische Arbeiten analysiert und eklatante Schwächen festgestellt: Einige dieser Studien hatten gar keine Kontrollgruppe, obwohl die Autoren das behaupteten. Meine chinesischen Mitarbeiter haben mir das Fehlen negativer Ergebnisse so erklärt: In ihrer Kultur wäre es eine tiefe Beleidigung, wenn ein Studienergebnis den Lehrern widersprechen würde.

SPIEGEL: Es gibt die Hoffnung, dass das indische Ayurveda eine Medizin für die Armen sein könnte - billig und wirksam.

Ernst: Ich kenne leider nur sehr, sehr wenige Hinweise darauf, dass ayurvedische Medizin wirkt. Aber ich habe viele Anhaltspunkte dafür, dass sie gefährlich ist. Ayurvedische Praktiker mischen in Indien etwa Gifte wie Blei oder Arsen in die Mittel. Sie meinen, dass sei pharmakologisch wirksam. Das ist es auch - aber nicht im Guten.

SPIEGEL: Wie steht es mit den Schüßler-Salzen, für die viele Apotheken werben?

Ernst: Ein interessantes Phänomen: Die Salze sind außerhalb Deutschlands weitgehend unbekannt, aber hierzulande ein phänomenaler finanzieller Erfolg. Ich habe das mal recherchiert, aber ich konnte nur etwas über die Geschichte der Schüßler-Salze schreiben. Über die Wirksamkeit gibt es überhaupt nichts. Und übrigens auch nicht zu den Verkaufszahlen ...

SPIEGEL: Die Salze enthalten also keinen Wirkstoff?

Ernst: Wilhelm Heinrich Schüßler war ein Homöopath, der mit der reinen Lehre gebrochen und andere Theorien entwickelt hat. Von der Homöopathie hat er allerdings die Verdünnung bis zur Unkenntlichkeit übernommen - er verdünnte eben Salze.

Bachblüten: Der Briten liebste Therapie

Bachblüten: Der Briten liebste Therapie

Foto: Corbis

SPIEGEL: Deutsche schwören auf Schüßler, Briten auf Bach-Blüten. Wie erklären sich diese nationalen Vorlieben?

Ernst: Edward Bach, der Erfinder der Bach-Blüten-Therapie - übrigens auch ein abtrünniger Homöopath - war Engländer. Deshalb ist seine Lehre auf der Insel weitverbreitet. Die Franzosen sind sehr homöopathieaffin, ebenfalls historisch bedingt: Der Erfinder der Lehre, Samuel Hahnemann, ging mit seiner schönen französischen Frau nach Paris und wurde da zum Modearzt.

SPIEGEL: Trotz all Ihrer Skepsis gegenüber alternativen Methoden: Nehmen Sie selbst irgendwelche Mittel?

Ernst: Ich schlucke Fischölkapseln.

SPIEGEL: Aktuelle Studien behaupten, dass solche Omega-3-Ergänzungsmittel bei der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nichts bringen.

Ernst: Für Herz-Kreislauf-Erkrankungen trifft das zu. Für rheumatische Erkrankung gibt es eine neue Metaanalyse, die sagt, dass sie präventiv wirken.

SPIEGEL: Und Sie haben Angst, dass Sie anfällig sind?

Ernst: Meine Familienkrankengeschichte ist zugegebenermaßen eher kardiovaskulär. Ich habe selbst mal geforscht auf dem Gebiet der Omega-3-Fettsäuren, und war sehr beeindruckt. Nun nehme ich sie halt wegen Rheuma.

SPIEGEL: Sie hoffen noch, dass mehr dran ist ...

Ernst: ... ich habe auch Schuppenflechte, die häufig auch in die Gelenke geht. Der Wirkungsmechanismus der Omega-3-Fettsäuren über den Prostaglandin-Mechanismus legt nahe, dass sie dieses Krankheitsbild bessern können. Endgültig bewiesen ist das allerdings nicht.

SPIEGEL: Sie sind seit 2011 emeritiert. Was treiben Sie derzeit?

Ernst: Als Emeritus muss ich kein Blatt mehr vor den Mund nehmen. Ich kann also sehr offen sprechen und tue das in meinem Blog und demnächst auch wieder in einem Buch.

SPIEGEL: Herr Ernst, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Annette Bruhns und Eva-Maria Schnurr