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Chronische Rückenschmerzen Es klemmt beim Arzt

Rückenschmerzen sind ein Volksleiden, doch nicht jeder wird sie wieder los. Das liegt auch daran, dass Ärzte die seit Jahren bestehenden Empfehlungen ignorieren. Laut Leitlinie sind sparsames Röntgen, keine Spritzen, mehr Kooperation angesagt - die Realität sieht anders aus.
Ärztliche Untersuchung: Empfehlungen werden oft ignoriert

Ärztliche Untersuchung: Empfehlungen werden oft ignoriert

Foto: Corbis

Man traut seinen Augen kaum, wenn man als Rückenschmerzpatient die "Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz", kurz NVL,  in die Hände bekommt. Auf 199 Seiten wird darin beschrieben, wie Rückenschmerzen behandelt werden sollten - und wie nicht. Seit 2010 gibt es dieses Dokument, und als ich das erste Mal darin las, bekam ich das Gefühl, aus einer ganz anderen Nation, vielleicht sogar aus einem anderen Universum zu kommen als diese Leitlinie.

In der Welt, die dort beschrieben wird, hören sich Ärzte in Ruhe die Rückenschmerzgeschichte des Patienten an. Sie fragen nach Problemen im Berufs- und Privatleben. Es wird nicht sofort ein Röntgenbild verordnet, wenn es im Rücken zieht, sondern frühestens nach sechs Wochen. Bei chronischem Schmerz ist von "einmaliger bildgebender Diagnostik" die Rede. Da saß ich also nun, dachte an meine Tüten voller Bilder, mit deren Inhalt ich meine gesamte Wohnung tapezieren könnte - und konnte nicht umhin zu lachen.

Würden sich Ärzte nach der Leitlinie richten, würde es bei chronischen, unspezifischen Rückenschmerzen weder Schmerzmittelspritzen noch Elektrotherapie noch invasive Therapien wie Wirbelsäulenoperationen und rückenmarksnahe Injektionen geben. Jenes Kapitel der NVL, in dem die Behandlungsmethoden bewertet werden, endet mit dem schönen Satz: "Im Krankheitsverlauf stehen die kontinuierliche Aufklärung und Motivation zu einer gesunden Lebensführung, die regelmäßige körperliche Aktivität einschließt, sowie die Vermeidung chronifizierungsfördernder und/oder nicht evidenzbasierter medizinischer Verfahren im Vordergrund der Versorgung."

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"Körperliche Aktivität?" Ich erinnere mich an den Arzt, der mir sowohl vom Krafttraining als auch vom Joggen dringend abriet. Schmerzmittel nicht per Injektion? Mir fallen die Orthopäden ein, die mir Spritzen in Po und Rücken gejagt hatten. Keine Verfahren, für die es keine Evidenz, also keine Beweise gibt? Ich denke an Elektrotherapie, Homöopathie und Osteopathie. Allesamt Verfahren ohne erwiesene Wirksamkeit, die trotzdem bei mir praktiziert worden sind. "Motivation zu einer gesunden Lebensführung", ich kann mich nicht erinnern, dass sich dafür schon mal ein Arzt interessiert hätte.

Kurzum: Was in der NVL steht, ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich während der Behandlung meiner Rückenschmerzen erlebt habe. Allein bin ich damit nicht: Immer wieder zeigen Studien, dass bei Rückenschmerzen zu häufig operiert wird und die Medizin die Patienten zu unnötigen Behandlungen verführt.

Wo bleibt das interdisziplinäre Assessment?

Mehr noch als das, was Ärzte und Therapeuten unsinnigerweise mit mir veranstalten, ärgert mich aber das, was sie unterlassen haben. Schließlich ist in der Leitlinie für jene Patienten, bei denen sich die Beschwerden nach sechs bis zwölf Wochen Behandlung noch nicht gebessert haben, das "interdisziplinäre Assessment", vorgesehen, also eine Untersuchung durch drei verschiedene Berufsgruppen: Arzt, Physiotherapeut und Psychologe. Nach sechs Wochen, nicht neun Jahren! Ich hätte mich schon 78-mal dafür qualifiziert gehabt, nie hatte ich davon auch nur gehört. Und mit einem Psychologen war ich wegen meiner Rückenschmerzen noch gar nicht in Kontakt gebracht worden.

Was mich aber am meisten aufregt: In der NVL wird Wert darauf gelegt, dass Ärzte und Therapeuten nach der interdisziplinären Untersuchung gemeinsam über die individuell angepasste Therapie entscheiden. Jahrelang war ich schon damit gescheitert, nur einen Austausch zwischen Ärzten und Physiotherapeuten herzustellen. Ein Physiotherapeut bekam einen Lachanfall, als ich ihn fragte, ob er mir die Muskeln aufschreiben könne, die verspannt seien. "Ich schreibe sie dir gerne auf, aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass das einen Arzt interessiert?"

Kommunikation findet nur auf einem kleinen Stück Papier statt

Seine Aussage deckte sich leider mit der Erfahrung, die ich machen musste: Einem Orthopäden erzählte ich, welche Muskelverspannungen der Physiotherapeut festgestellt hatte - ich kam nicht weit, denn er unterbrach mich mit den Worten: "Okay, ich schreibe Ihnen die Physiotherapie noch mal auf", und verabschiedete mich.

Ob aus Desinteresse, Bequemlichkeit oder Ahnungslosigkeit: Die meisten Ärzte untersuchen das Skelett. Die Muskulatur lassen sie meist weitgehend unbeachtet links und rechts der Wirbelsäule liegen. Darum kümmert sich der Physiotherapeut. Umgekehrt halten sich die Physiotherapeuten auch nicht unbedingt an das, was der Arzt auf das Rezept geschrieben hat. Außer einem kleinen Stück Papier wird in der Regel also nichts ausgetauscht zwischen den beiden Berufsgruppen.

Absurd, aber das ist die Realität für Patienten mit Rückenschmerzen in Deutschland. Und die NVL spricht vom krassen Gegenteil: einer Teamsitzung! Es gibt einzelne Zentren, in denen interdisziplinär untersucht und behandelt wird - für die überwiegende Zahl der Menschen mit Rückenschmerzen existiert diese Kooperation verschiedener Therapeuten nicht.

Was in der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz steht, könnte vielen Menschen helfen - es ist an der Zeit, dass endlich so therapiert wird, wie es dort empfohlen wird.

DIE RICHTIGE BEHANDLUNG - FRAGEN AN DEN EXPERTEN

Ab wann sind Rückenschmerzen chronisch?Was läuft bei der Behandlung oft falsch?Wie findet man den richtigen Arzt?