Hilke Hansen ist Professorin für Logopädie in Osnabrück und im Vorstand des Hochschulverbunds Gesundheitsfachberufe.

Haben Sie sich jemals gefragt, ob das Medizinstudium Ihrer Hausärztin sie daran hindern könnte, gute praktische Untersuchungen durchzuführen? Finden Sie, dass Ihr Zahnarzt oder Ihr Psychotherapeut besser eine Berufsfachschule besucht hätte, um Sie auf dem aktuellen Wissensstand behandeln zu können?

Diese Fragen erscheinen Ihnen absurd? Genauso absurd ist die gegenwärtige Debatte zur Ausbildungsreform der Therapieberufe. Dabei geht es um die Entscheidung, ob der berufliche Weg in die Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie zukünftig über ein Studium gehen sollte oder ob es bei einer dreijährigen Ausbildung an der Berufsfachschule bleibt. Dahinter steckt die Frage, ob die Qualität der Therapie – zum Beispiel für Menschen, die nach einem Schlaganfall keine Worte mehr finden oder nicht mehr selbstständig essen und gehen können – sich durch eine Hochschulqualifikation verbessern oder verschlechtern würde.

Der Verband der Deutschen Privatschulverbände (VDP) hat dazu eine klare Position. In seiner öffentlichen Kampagne ("Wir stärken euch den Rücken. Und ihr?") lässt er den Physiotherapie-Auszubildenden Patrice Schwarz sagen: "Ich werde Physiotherapeut, weil ich praktisch arbeiten und Menschen helfen möchte. Klar, dafür muss ich vieles lernen. Das tue ich aber am besten mit möglichst viel Praxis, nicht in einem Hörsaal."

Aus dem Mund einer Medizinstudentin oder eines Psychologiestudenten wäre dieser Satz undenkbar. Wissenschaftliches Wissen auf dem aktuellen Stand der Forschung wird in der Medizin und Psychotherapie als eine zentrale Grundlage guter Ausbildungs- und Versorgungspraxis verstanden. Die internationale Forschung belegt klar, was unsere Alltagserfahrung zeigt: Die in Deutschland verbreitete "Hands on"-Physiotherapie zeigt im besten Fall kurzfristige Erfolge. Effektive und effiziente physiotherapeutische Diagnostik und Therapie bedarf vielfältiger, zusätzlicher Kompetenzen. Deutschland muss in Ausbildung, Versorgung und Forschung an europäische Standards anschließen. In nahezu allen europäischen Ländern sind die Berufe seit Jahrzehnten akademisiert. Zuletzt haben die Schweiz (2004) und Österreich (2009) erfolgreich nachgezogen.

Natürlich hat der VDP Gründe für seine Kampagne: Er vertritt Bildungskonzerne, die viel Geld verdienen mit privaten Berufsfachschulen für Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Zum Teil zahlen dieses Geld die Auszubildenden und ihre Familien, zum Teil finanzieren die Bundesländer seit einigen Jahren die Schulgelder. Eine sichere, steuerfinanzierte Einkommensquelle – die den Privatschulen fraglos den Rücken stärkt.

Während die Haltung des VDP damit nachvollziehbar wird, ist die Positionierung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) ein Skandal. Noch im Juli 2022 hatte das BMG den Vorschlag gemacht, Masseure und Bademeister in Berufsfachschulen auszubilden und die Physiotherapie vollständig an die Hochschulen zu bringen. Jetzt rudert das Ministerium zurück und verhandelt hinter verschlossenen Türen mit den Ländern über eine Teilakademisierung. Die Idee ist, nur 10 bis 20 Prozent der Berufsangehörigen an Hochschulen zu qualifizieren. Welche inhaltlichen Überlegungen hinter dieser Eliten-Bildung stehen, ist nicht transparent. Bei gleicher Berufsbezeichnung konstruiert das BMG zusätzliche Aufgaben und Kompetenzen für hochschulisch Qualifizierte.

Über die Hintergründe der Kehrtwende lässt sich nur spekulieren. Es wirkt, als verhinderten Lobbyinteressen die Reform. Auch die Marginalisierung sozialer Frauenberufe, mangelnde Innovationsfähigkeit und Bund-Länder-Konflikte spielen wohl eine Rolle. Statt eine hohe Therapiequalität für alle sicherzustellen, steuert das Ministerium nun auf eine Zwei-Klassen-Versorgung zu. Es ist höchste Zeit, die Potenziale der therapeutischen Berufe für die Gesundheit der Menschen in Deutschland zu nutzen.