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Hamburger Gängeviertel: In die Gänge kommen

Foto: Franziska Holz

"Pay what you want" im Gängeviertel Wo Geiz nicht geil ist

Wer im Hamburger Gängeviertel ein Bier bestellt oder ein Konzert besucht, darf selbst entscheiden, wie viel ihm das wert ist. Er muss sogar. Aber kann das "Zahl, so viel du willst"-Prinzip funktionieren? Ein Besuch bei Menschen, die es wissen müssen.

"Zwei Bier, bitte!"

"Kommt sofort… Hier."

"Was macht das?"

"Zahl, so viel du willst."

"…?"

Es ist ein Dialog, den Barkeeper Klaus so oder so ähnlich Dutzende Male am Abend führt. Klaus steht hinter dem Holztresen der Jupi-Bar, alternativ-abgeschrammelt, Hamburger Gängeviertel. Wer bei Klaus bestellt, muss sich überlegen, was er für das Bier, die Cola, den Wein ausgeben will. Schiebt jemand den roten Samtvorhang am Eingang zur Seite, ahnt Klaus oft schon, wie viel der Gast zahlen wird: die Klamotten, der Schmuck, das Handy; sein Bauchgefühl.

Zwei Drittel der Besucher würden einen fairen Preis bezahlen, sagt Klaus und meint damit mindestens 1,50 Euro pro Getränk. Ein Drittel der Gäste zahle weniger. Darunter erkennbar Arme - das sei okay. Und Knauser - das gehe gar nicht. Wenn "Anzug- und Schlipsträger" aus den umliegenden Bürogebäuden in die Jupi-Bar kommen und ihm weniger als einen Euro für ein Getränk geben, hilft Klaus schon mal nach. Charmant und nett müsse man dann nachfragen, sagt er. Zum Beispiel so: "Ein Euro für zwei Bier? Das kann ja wohl nicht wahr sein."

Viele Gäste können mit der Wahlfreiheit an der Theke nichts anfangen. Denen erklärt Klaus, dass sie sich einfach überlegen sollen, was sie in einer anderen Kneipe ausgeben. Und dass sie hier nicht bloß für das Bier bezahlen. Sondern für den Erhalt des Gängeviertels.

Aus einem Tag werden Jahre

Am 22. August 2009 besetzten rund 200 Künstler das Viertel in der Hamburger Innenstadt. Eine Protestaktion gegen den geplanten Abriss der zwölf historischen Häuser. "Wir dachten, es wäre nur für einen Tag", sagt Christine Ebeling, die Sprecherin der Initiative "Komm in die Gänge". Viereinhalb Jahre später sind die Künstler immer noch da. Und damit auch das "Zahl, so viel du willst"-Prinzip. Es gilt für sämtliche Ausstellungen im Gängeviertel, für Lesungen und Konzerte, in der Bar und den Cafés.

Ein spannendes volkswirtschaftliches Experiment spielt sich hier seitdem Tag für Tag ab: Wieviel zahlen Menschen, wenn sie nichts zahlen müssen? Welchen Preis empfinden sie als fair?

"Durch die offene Preispolitik werden die Menschen dazu angeregt, sich Gedanken über ihr Konsumverhalten zu machen, über die tatsächlichen Werte", sagt Christine Ebeling. "Im Gängeviertel geht es darum, das allgemeingültige System in Frage zu stellen und die Eigenverantwortung zu stärken." Ob sich das finanziell lohnt? Ebeling will keine genauen Zahlen nennen. Nur so viel: "Wir kommen zurecht. Es trägt sich." Hinter den Tresen stehen ausschließlich Ehrenamtliche, der Gängeviertel-Verein mit seinen etwa 190 Mitgliedern trägt die Kosten für Strom, Wasser, Müllentsorgung. Die Rechnungen werden mit dem bezahlt, was an Vereinsbeiträgen, an Spenden und dank "Zahl, so viel du willst" reinkommt.

"Einen Reibach machen wir nicht", sagt Klaus, der Barkeeper. "Aber wir können die Kosten gerade so decken." Von dem wenigen, was manchmal übrig bleibe, könne man höchstens mal eine Lichterkette kaufen. Er selbst engagiert sich im Gängeviertel, weil er nach einem Studium an der Kunsthochschule und vier Jahren in einer Werbeagentur gemerkt habe, dass er "nicht mehr kommerziell leben will". Vor sieben Jahren hat er sich als Siebdrucker selbstständig gemacht, sein Atelier ist im Gängeviertel. Er nennt sich Besetzer. Und glücklich.

"Das Konzept funktioniert"

Aber warum zahlen seine Gäste überhaupt etwas? Wenn Geiz schon geil ist, müsste gratis da nicht die totale Erfüllung sein?

Der Marketing-Experte Marcus Kunter forscht an der Universität Aachen zu dem Preiskonzept, das sie hier "pay what you want" nennen. Mehrere Voraussetzungen müssen laut Kunter erfüllt sein, damit sich dieses Bezahlmodell rentiert. Es funktioniert demnach unter anderem besonders gut:

  • wenn der Anbieter ein gutes oder soziales Image hat. Bei großen Unternehmen falle das Ausnutzen leichter - frei nach dem Motto: "Die haben sowieso schon genug Geld." Für McDonald's ist "pay what you want" demnach keine gute Idee.
  • wenn es sich um Dienstleistungen handelt, die unabhängig von der Anzahl der Besucher hohe Fixkosten verursachen, also beispielsweise in Zoos oder Museen. Viele Besucher, die wenig zahlen, bringen dort eher mehr als wenige Besucher zu einem hohen Preis.
  • wenn das Fairnessempfinden der Kunden besonders ausgeprägt ist. Das hänge unter anderem vom Alter und dem Einkommen ab. Ältere zahlen laut Kunter mehr als Jüngere. Und Menschen, die weniger über Geld nachdenken, geben im Regelfall mehr.
  • wenn der Kunde persönlich bezahlen muss. Wer einem Kellner Geld in die Hand drückt sei großzügiger, als wenn er es ungesehen in eine Box werfen kann.
  • wenn der Kunde eine persönliche Beziehung zum Anbieter aufgebaut hat. Das gelte für Stammkunden in der Kneipe. Oder für Fans von Computerspielen, die sich als Teil einer Community fühlen.

Ob sich das Bezahlsystem auf lange Sicht rentiert, weiß Kunter nicht. "Die Forschung zu dem Thema hat erst 2007 zeitgleich in den USA und in Deutschland begonnen", sagt er. Damals bot die britische Band Radiohead ihr neues Album online an, die Fans konnten dafür zahlen, was sie wollten. (Mehr Informationen zu diesem und anderen Beispielen finden Sie in der Fotostrecke am Ende des Textes).

Dass "pay what you want" im Hamburger Gängeviertel schon so lange ausgeübt wird, liegt laut Kunter auch daran, dass viele Besucher seit Jahren mit dem Vorhaben der Künstler sympathisieren. Dass sie sich wohl fühlen in den engen, verwinkelten Gassen. Und dass sie wollen, dass dieses Stück Stadtgeschichte erhalten bleibt. Dafür zahle man dann auch mal mehr für sein Bier, sagt Kunter.

Die Sanierung als Ende

Tatsächlich sehen die Gäste in der Jupi-Bar das ganz ähnlich. "Man solidarisiert sich schnell mit dem Laden", sagt Samuel, 28, Student. Das Bezahlsystem finde er cool. "Man hat eben mal mehr und mal weniger im Portemonnaie und kann trotzdem immer herkommen", sagt er. An diesem Abend hat er "mehr als 1,50 Euro" für sein Bier bezahlt, wie viel genau, will er nicht sagen. "In der Kirche legst du ja auch nicht offen, wie viel du gespendet hast."

Spenden will Samuel in diesem Fall für die "Aufrechterhaltung der Häuser im Gängeviertel". Dass diese inzwischen nicht mehr vom Abriss bedroht sind, weiß er nicht. Im vergangenen Herbst haben die Sanierungsarbeiten begonnen. Für voraussichtlich 20 Millionen Euro werden 79 Sozialwohnungen und 21 Gewerbeeinheiten entstehen. Auch für Ateliers soll Platz sein, doch von dem alternativ-abgeschrammelten Look wird nichts bleiben. Und vom "Zahl, so viel du willst"-Prinzip?

"Wir wollen, dass es bleibt", sagt Initiativen-Sprecherin Ebeling. "Aber das hängt unter anderem von den Mieten ab, die wir dann zahlen müssen."

"So wie jetzt können wir nach der Sanierung nicht weitermachen", sagt Barkeeper Klaus. "Wir hatten hier viel Spaß. Jetzt wird es ernst."